Howard L. Gossage, einer meiner Säulenheiligen, war verrückt im allerbesten Sinne des Wortes, dennoch vermutlich nicht allzu glücklich, aber definitiv ein weiser Mann. Man nannte ihn den „Sokrates von San Francisco”, dort betrieb er von 1957 bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1969 seine Werbeagentur. Und Gossage war ein Mad Man reinsten Wassers.
Mad genug, damals eben nicht an der Pflichtadresse Madison Avenue (NY, NY) zu residieren und mad auf Werbung, die in dieser Zeit zu einem noch größeren Teil aus alberner Reklame bestand als heute. Sein allerklügster überlieferter Satz gilt heute ganz besonders und beantwortet allen, die ihn verstehen, eine Menge Fragen, ähnlich wie es des Sokrates von Athen weise Worte tun: „Der Kluge lernt aus allem und von jedem, der Normale aus seinen Erfahrungen, und der Dumme weiß alles besser.”
Was wir dringend lernen sollten.
Gerade in unserer schnellen Welt der Marketing-Kommunikation ist Lernen tägliche Pflicht, das Neue verstehen steht als eines der Hauptfächer am Stundenplan. Dennoch: manche Dinge ändern sich nie, werden aber trotzdem beharrlich ignoriert.
Was wir nämlich wirklich dringend lernen könnten, so oder so, ist erstens, dass die Menschen nicht so bescheuert sind wie man es sich in Werbeabteilungen und -agenturen vorstellt, wie man sie dann in Kampagnen darstellt und dass sie auch nicht so bescheuert sind wie sie sich sehr oft benehmen.
Zweitens, dass es zwar über Jahrzehnte funktioniert hat, möglichst vielen wehrlosen Konsumenten Werbebotschaften vor die Nase zu pushen, es aber deshalb nie richtig war, schon gar nicht beliebt und überhaupt nicht respektvoll.
Unsere Chance: niemand kauft Produkte.
Und drittens könnten wir langsam lernen, dass die Konsumenten nicht wehrlos sind, sondern an der Macht. Spätestens als seit 6. August 1991 die erste Website online ging. Das Web hat die Konsumenten wieder in Menschen verwandelt, theoretisch jedenfalls, auch wenn sie sich praktisch oft ganz anders verhalten, nämlich doch einigermaßen bescheuert.
Diese Machtverhältnis-Korrektur mag den altmodischen Störenfried-Werber erschrecken, tatsächlich bietet sie mehr Erfolgs-Chancen als jemals zuvor. Im Web können Unternehmen, Services und Marken nämlich in mannigfaltiger Weise den Menschen auf Augenhöhe begegnen.
Viel mehr noch: Es geht ja längst nicht mehr um Produkte, sondern um Bedeutung. Deshalb kannst du heute größter Unterkunftsvermittler der Welt sein, ohne einen einzigen Schlüssel für ein Hotelzimmer zu besitzen – siehe Airbnb. So kannst du ohne einen einzigen Journalisten zu engagieren, das größte Medium der Welt sein – siehe Facebook. Und so kannst du Produkte, die weniger können als andere, zu höheren Preisen verkaufen als Andere – siehe Apple.
Die bittere Wahrheit ist: Niemand interessiert sich für unseren Scheiß.
Märkte haben sich in Beziehungen und noch mehr in rasend schnelle unaufhörliche Gespräche verwandelt. Marken können sich an diesen Gesprächen beteiligen. Ja, wir als – ehemalige – Werbeleute können sie auch initiieren und wenn wir intelligent sind sogar bereichern. Doch was wird mit allen Mitteln der altmodischen Werbe-Kauf mich!-Schreihals-Methoden versucht? Die Gespräche zu manipulieren, zu beeinflussen, zu stören. Das Publikum auszutricksen.
Zauberwörter wie Native Ads oder Pre-, Mid und Post-Rolls verkleiden das alte Begehren, möglichst vielen wehrlosen Konsumenten Werbebotschaften vor die Nase zu pushen, in zeitgemäße Konsumentenansprache. Möglichst noch in höchster Programmatic-Effizienz verteilt. Das ist nicht Advertising, das ist Adverstalking. Das gehört in dieselbe Steinzeit, in der vom „Endverbraucher” gesprochen wurde und ist unterm Strich nichts Anderes als das, was man in selber Steinzeit als „Schleichwerbung” bezeichnet hat.
Klickrates, Likes und Followers gaukeln Wirkung vor, aber urplötzlich gibt Facebook zu, dass die großartigen Erfolgszahlen leider doch aus dem Fakebook stammen. Ist es ein Wunder, dass die Menschen selbst neue Werkzeuge erfinden, weil sie sich vor ihnen schützen wollen? Nein, es ist kein Wunder, dass Menschen Geld ausgeben, damit sie keiner Werbung mehr begegnen müssen und Adblocker rasante Verbreitung finden. Hätte „Werbung überspringen” einen Instagram-Account, selbst Selena Gomez würde sich über dessen Followerzahlen in Neidattacken winden.
Dieses spektakulär falsche Denken der so genannten Profis bringt nicht nur Menschen auf die Palme und Marken in Probleme. Das Abwehrverhalten der Menschen bringt Publisher zunehmend in Bedrängnis: sie stehen im friendly Kreuzfeuer ihrer beiden Kundengruppen und sollten mit allem, was sie an Einfallsreichtum aufbieten können, mit Nachdruck an nachhaltigen Lösungen arbeiten.
Liebe Leute, so konnten wir früher arbeiten, durchaus mit allergrössten Erfolgen. So haben wir früher gedacht. Meinetwegen: Wir haben es nicht besser gewusst, wir haben es nicht besser gekonnt, wir waren jung und brauchten das Geld. Dann haben wir es besser gewusst und nicht besser gekonnt. Jetzt wissen wir es besser, auch jene, die es nicht zugeben, und wir könnten es besser.
Geht es wirklich anders? Ja, unbedingt. Ja, erfolgreich. Ja, nur. Story statt Werbung heißt die Devise, denn: No Story. No Glory.
In welchem Business bist du wirklich?
Ich ziehe an dieser Stelle stets das Beispiel Always #likeagirl aus dem Ärmel und anerkennend meinen Bewunderungshut und mache das aus aktuellem Anlass wieder. Schau dir dieses Projekt unbedingt an.
Always engagiert sich seit 2014 in der Unterstützung des Selbstvertrauens von Mädchen und Frauen, also in einem Themenfeld, in dem auch das Produkt selbst einen Beitrag leistet und es damit glaubwürdig tun kann.
Bei Always hat man verstanden, in welchem Business sie wirklich sind. Wenn sie mit ihrem Nachwuchspublikum sprechen, dann geht es nämlich nicht zuerst ums Verkaufen von Produkten der Damenhygiene-Industrie, sondern um eine Beziehung und Bedeutung. Um das Grundthema, das Mädchen in diesem Alter so richtig in die Klauen bekommt, nämlich ihr – verschwindendes – Selbstvertrauen.
Always hat völlig richtig erkannt, dass sie im Selbstvertrauens-Business sind. Dort brennt die Sehnsucht der Mädchen. Dort kann der echte, der emotionale Nutzen für die Mädchen entstehen und damit die Bedeutung der Marke und eine ernsthafte Beziehung auf Augenhöhe. Dort bekommt die Marke Unterscheidbarkeit durch Relevanz. Das ist eine Brandstory, die sich wirklich so nennen darf.
Und genau diese Mechanik gilt es zu verstehen, dann können wir sie für unsere eigene Arbeit emulieren. Story statt Werbung.
Hier gibt’s das Video zum Start der Initiative #likeagirl:
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Diese Kampagne, tatsächlich: diese Bewegung bearbeitet das Thema Selbstvertrauen/Selbstwert von Mädchen mit ständig neuen Initiativen in unterschiedlichen Aspekten und belässt es längst nicht bei emotionalen Filmen. Always kümmert sich um das Thema wirklich und aktiviert das Movement in Schulen, in Summits, in der Entwicklungshilfe …
Brand Experience so wie sie sein soll und noch dazu erfolgreich. Erfolgreich als Kampagne, erfolgreich in der Wirkung, erfolgreich für die Marke. Hier gibt es eine kompakte, etwas ältere Case Study:
Jedes Jahr im August bringt #likeagirl ein neues Thema. Dieses Jahr geht’s um „Keep going like a girl!” also: „Gib nicht auf!”
Das ist Brand-Storytelling in perfekter Form, nicht Storytelling, sondern Storysharing: Marke und Publikum teilen gemeinsame Werte, eine gemeinsame Sehnsucht wird aktiviert. Und zwar so, dass das Publikum danach sucht, sich aktiv daran beteiligt und nicht belästigt wird. Im Gegenteil. Was kümmert uns da noch ein Ad-Blocker?
Darum geht’s letztlich bei Story: um die gemeinsame Geschichte von Publikum und Marke. Wenn diese Geschichte vom Publikum geteilt wird – sinnbildlich und wörtlich – dann verwandelt sich Storytelling in Storysharing und dann verwandeln sich tatsächlich wenig aussagekräftige, weil oft allzu oberflächlich verteilte Klicks und Likes, in unbezahlbares Involvement.
Brandstory ist kein Werbe-Gag.
Wenn man sich die Umsetzung der Kampagne im deutschsprachigen Raum ansieht, dann wird einem allerdings Angst und Bange, denn genau so geht es nicht. Hier wir das Thema einfach als grottendämlicher Werbespot verwurschtet.
Die Geschichte hängt bereits an der Herz-Lungen-Maschine, wenn die Offsprecherin das erste Wort sagt und ist herz- und hirntot, sobald das Produkt ins Bild kommt. DOA – Dead on Arrival oder Doof Ohne Authentizität.
Und über die Übersetzung von „Rewrite the rules” zu „Schreib die Regeln neu” sollte vielleicht ein Texter, der seinen Beruf kann, angesichts des Produktes noch einmal ein paar Minuten Denksport investieren … Oder noch besser: eine Texterin.
- Dein Brand Purpose muss deinem Unternehmen ein authentisches Anliegen sein: Würdest Du Dich auch dafür stark machen, ohne dass es Deiner Marke unmittelbaren Werbe-Nutzen bringt?
- Ein Brand Purpose muss einen Beitrag zum Nutzen deines Publikums liefern.
- Dein Publikum kann damit aktiviert werden und darf nicht passiver Beobachter bleiben. So wird es tragender Teil des Brand Purpose.
Der eine entscheidende Erfolgsfaktor.
Das gilt übrigens für alle, die Marketing-Kommunikation betreiben, nicht nur für internationale Mega-Brands. Das gilt für B2B, das gilt für kleine Unternehmen, das gilt für jede Branche. Die echten Erfolgs-Messgrößen sind Time with Brand und ROI – Return of Involvement, und nicht kurzsichtiges Return on Investment. Besser noch ROE – Return of Engagement.
Also, hier kommt die Gewinnfrage: Wie viel Zeit verbringt dein Publikum mit dir und deiner Marke und wie stark nehmen die Menschen aktiv an deiner Story teil, weil es für sie relevant ist? Involvement ist der eine entscheidende Erfolgsfaktor, der heutzutage die ausgedroschene Werbespreu vom Weizen mit Marken-Nährwert trennt.
Die Saat des Erfolges streust du schon bei der Konzeption auf den Acker deiner Aktivitäten, wenn du ein einfaches Prinzip verinnerlichst: Keine Information ohne Interaktion.
Small Talk ist teuer.
Ich behaupte nicht, dass das leicht umzusetzen ist, denn das ist es überhaupt nicht. Auch deshalb findet man nicht viele gut gemachte Kampagnen. Nein, leicht ist es nicht. Aber es ist nötig.
Denn, wenn du und dein Publikum kein Gesprächsthema habt, das euch beide interessiert, dann bleibt euch nur noch Small Talk über ein einziges Thema. Im Gegensatz zu langweiligen Partys geht’s dabei aber nicht ums Wetter, sondern um den Preis. Und dann bekommt Small Talk plötzlich eine sehr unangenehme Bedeutung für dich.
Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der mit „Relevante Werte” beschrifteten Kassette. Denn sobald und nur dann, wenn eine Brandstory durch Werte beseelt ist, die eine Sehnsucht beim Publikum berühren, entsteht eine Storyworld in der sich Marke und Publikum begegnen und interagieren und kostbare Time with Brand miteinander verbringen. Und dann ist ein wirklich starkes Band geflochten.
Push ist tot. Hoch lebe Pull.
Wenn sich an der Denke, die seit ungefähr 1830 die Marketing-Kommunikation diktiert nichts ändert, wir also weiterhin meinen, es wäre ein Erfolg wenn wir möglichst vielen Menschen unser Zeug vor die Nase pushen, wird’s finster. Die besondere Wirkung von Storytelling und Content Marketing liegt nämlich im direkten Gegenteil von Push, im Pull.
Wenn wir unser Publikum mit Dingen inspirieren, die in seinem Leben Nutzen bringen, dann müssen wir es nicht verzweifelt verfolgen, sondern die Menschen werden zu uns kommen. Die Voraussetzung dafür ist, dass jede Marke drei einfache Prinzipien versteht und aktiviert:
- Welchen Kernwert spreche ich nachhaltig an, also: welche Sehnsucht der Menschen teile ich?
- Wodurch kann ich diese Sehnsucht gleichermaßen stillen und nähren?
- Was kann ich anregen, verteilen oder initiieren, das den Menschen so wichtig ist, dass sie es weiter verteilen, weil sie dadurch mehr über sich selbst erzählen als über mich?
Und nach wie vor interessiert sich niemand für unseren Scheiß, sondern nur und ausschließlich für seinen eigenen. Deshalb:
- Deine Story kann niemals von deiner Marke und muss immer von deinem Publikum handeln.
- Deine Marke ist nicht der Held, deine Marke muss ihre Benutzer zum Helden machen.
- Damit deine Marke Quality Time mit ihrem Publikum bekommt, muss sie relevant sein. Das bedeutet … (siehe 1).
Die Prinzipien sind einfach, ihre Umsetzung ist es ganz und gar nicht. Dafür braucht es als Grundvoraussetzung eine veränderte Haltung im Unternehmen selbst und nicht nur viele junge Leute mit Snapchat-Account in der Marketingabteilung. Das beginnt bei der Unternehmensführung und umfasst alle Abteilungen, besonders natürlich Marketing, Vertrieb, Service und zu aller erst Human Resources – Stichwort Employer Branding.
Übrigens: Der Howard Gossage-Satz, den ich oben so smart anteaserte, dass die Lese-Neugier noch hier unten lodert, lautet: „Nobody reads ads. People read what interests them. Sometimes it’s an ad.” Story statt Werbung.
Dem ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht ein Zitat meiner Großmutter, der alten Story Dudette: „No Story. No Glory.” Isso!