Kürzlich stieß ich in meinem Buchregal auf einen Klassiker der deutschsprachigen Literatur: „Eine blaßblaue Frauenschrift“. Die Novelle aus der Feder von Franz Werfel spielt im Jahr 1936 und ist bis heute so brennheiß aktuell, man glaubt es kaum. Die Geschichte handelt von Leonidas Tachezy, Sektionschef im österreichischen Unterrichtsministerium, der durch die Heirat mit der Millionenerbin Amelie Paradini in die höchsten Kreise aufstieg. Ein Mitglied der Elite des Landes.
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Im Blogcast lese ich Dir diesen aktuellen Blogartikel vor. Mit Betonung, versteht sich!
An seinem 50. Geburtstag erhält er einen Brief. In einer blassblauen Frauenschrift geschrieben von der großen Liebe seines Lebens, Vera Wormser. Sie bittet den Sektionschef für einen begabten jungen Mann, der „aus den allgemein bekannten Gründen“ in Deutschland sein Gymnasium nicht mehr besuchen darf, einen Schulplatz in ihrer ehemaligen Vaterstadt Wien zu ermöglichen. Leonidas erfährt offenbar auf diesem Weg, zwei Jahre vor dem Anschluss, dass er – damals bereits verheiratet – aus einer Affäre mit der Jüdin Vera einen Sohn hat. Was wird Leonidas tun?
Wie’s weitergeht, bitte selbst lesen. Und dringend auch die wunderbare Verfilmung ansehen: (B: Kurt Rittig | Axel Corti, R: Axel Corti).
So viel sei hier verraten: Im Gegensatz zu seinem Namenspatron, dem heroischen König Leonidas von Sparta, ist der Sektionschef Leonidas Tachezy ein liebenswürdiger, manierlicher, gebildeter Opportunist der Sonderklasse. Hatten sich König Leonidas und seine Soldaten bei der Verteidigung der Heimat gegen die Perser noch bis auf den letzten Mann aufgeopfert, so gibt der Sektionschef seine innere Heimat, die Wahrheit, aalglatt und gewohnheitsmäßig preis. Für ihn zählt sein persönlicher Vorteil, was andere über ihn denken oder sagen mögen, seine Bequemlichkeit, sein Fortkommen.
„Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl.“, heißt es beim altgriechischen Dichter Simonides. Leonidas Tachezy liegt dort nicht herum, sondern stets auf der jeweils richtigen Seite, wo auch immer sie ist. An der Grenze zu seiner inneren Heimat wird die Wahrheit zurückgewiesen, dort verwandelt sich Pragmatismus in aller Eleganz in Opportunismus. Leonidas ist einer, der mit der Wahrheit lügt, wie das die Filmmacher so trefflich beschrieben. Davon handelt die Geschichte wirklich.
Und so entdecken wir in ihrer zeitlosen Aktualität – in der inneren Geschichte der äußeren Handlung – uns allzu schauerlich selbst. Überdeutlich sehen wir in den Spiegel unseres eigenen Verhaltens und des Verhaltens unzähliger Figuren aus Politik, Wirtschaft und sonstwo, die das öffentliche Gespräch in den nahezu unentrinnbaren Medienkanälen mit der als Wahrheit verkleideten Lüge im Dauerbetrieb fluten.
An dieser Stelle wird die Storytelling-Falle scharfgestellt, an jener zarten Naht, wo Framing und Narrative ihre kalten Schatten übers feine Gewebe der Wahrheit legen. So entscheidend nämlich für alle, die etwas bewegen wollen, die richtige Story ist, so verführerisch blitzt genau hier die Verlockung der nützlichsten Darstellung auf, der Halbwahrheit, der Hinterlist, der Hinterfotzigkeit.
Wir haben uns an die strukturelle Verwechslung von Argument und Ausrede bereits so gewöhnt, dass wir sie weitgehend einfach hinnehmen, falls wir sie überhaupt noch bemerken. Isshaltso, meinegüte …
Das beginnt bei König Donald, dem ungekrönten Herrscher im Reich der alternativen Fakten, und zieht sich bis in die Alltagssprache hinein. In aller Profanität: unser „Vielleicht“ als kommoder Nein-Ersatz, das als „Irgendwann“ zugeschminkte Nie. Wann hat zuletzt jemand „wir haben einen verdammten Verlust gebaut“ gesagt, und nicht „Minuswachstum“, wenn „wir haben einen verdammten Verlust gebaut“ zu sagen wäre?
Da haben wir den Salat.
Irgendwann stolpert man dann selbst über einen geschickt drapierten Fallstrick und landet mit einem satten Bauchfleck vor den Füßen der Lügenbarone. Etwa dann, wenn man zum Beispiel Salat kauft, auf dessen Packung „Hergestellt in Österreich“ zu lesen steht, mit dickem rot-weiß-rotem Strich betonend verhalbamtlicht, dann ist man eben selbst ein Idiot, wenn man annimmt – was sonst sollte man bei Salat auch herstellen –, er sei hier gewachsen und nicht irgendwo auf der Welt, und in Österreich eben dann bloß zerpflückt und noch hübsch ins Tütchen getütet worden. Das meint nämlich „hergestellt“ bei Salat, den haben wir dann da auch, und so fällt einem der Satz des guten Erich Kästner ein: „Was immer auch geschieht: Nie sollt Ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man Euch zieht, auch noch zu trinken!“
Würde man die Strippenzieher fragen, weshalb sie das tun, der Schwall an Hinweisen auf Konsumenteninformation und transparente Kennzeichnungssysteme und auf die ja bitte eh vorhandenen eindeutigen Hinweise auf der Packungsrückseite wären nicht zu bändigen. Aber! Aber würden die Menschen wegen dieser verlogenen Herkunfts-, pardon: Herstellungskennzeichnung vorne drauf weniger bezahlen oder das Produkt nicht kaufen, der Hinweis wäre unter Garantie schneller verschwunden als Endivie in der Julisonne welkt, wie auch eine Lüge bekanntlich bereits dreimal um die Erde gelaufen ist, noch bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.
„Während das Lügen immer primär ein Handeln ist, ist das Wahrheitsagen, gleich ob es sich um Tatsachen- oder Vernunftwahrheiten handelt, dies gerade nicht“, schrieb Hannah Arendt in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“, was sich weißgott nicht auf Politik allein beschränkt. Denn die aktiv gesetzten Irreführungen gibt’s allerorten aus einem simplen Grund: weil sich die Irreführer dadurch erwarten, mehr Geld zu verdienen als mit der klaren Aussage. Es ist nichts anderes als eine weiterer schriller Ton im „Kauf mich!“-Chor.
Zu diesem Themenkreis und unter dem Titel „Kauf mich! – Auf der Suche nach dem guten Konsum“ hat die Aktivistin Nunu Kaller ein Buch geschrieben. Ich lege es dir mit einem munteren „Kauf es!“ sehr ans Herz, auch deshalb, weil es ausdrücklich kein Buch gegen das ist, was man so despektierlich Konsum nennt ist, sondern für den bewussten Umgang mit allem, was wir kaufen. Nunu ist übrigens die beherzte Anpackerin hinter dem Erfolgsprojekt „Ladenliste für den heimischen Handel“.
Kauf mich!
Ein begehrenswert verlockender Couchtisch auf einem Flohmarkt brachte Nunu Kaller zum Nachdenken. Sie hatte nämlich einen Couchtisch und war gar nicht auf der Suche nach einem neuen. Wollte sie das gute Stück also wirklich? Und dann die nächsten Fragen: Was passiert da in und mit uns? Warum können wir nicht nichts kaufen? Kann Konsum auch gut sein – für uns, für die Umwelt, für die Menschen, und wenn ja, wie denn? Nunu Kaller ging der Sache auf den Grund. In ihrem Buch untersucht sie die Psychologie unseres Kaufantriebs, das Dopamin-High bei der Schnäppchenjagd, die Tricks der Supermärkte (siehe oben), oder die Greenwashing-Tricks der Modeindustrie unter besonderer Berücksichtigung der Fast-Fashion-Pest. Und sie richtet einen kämpferischen Aufruf an uns, von passiven KonsumentInnen zu aktiven GestalterInnen zu werden, denn: „Wir sind mehr als unser Geldbörsel! Wir haben das Recht, unsere Stimme zu erheben.“ Den Couchtisch hat sie übrigens nicht gekauft, aber sie war vor kurzem zu einem knackigen Gespräch bei mir im Podcaststudio.
Unsere Stimme erheben, das Recht haben wir, ja: die Pflicht sogar. Das sollten wir machen, vor allem auch unsere innere Stimme erheben, wenn’s Not tut wider uns selbst. Und ihr gut zuhören, denn sie sagt uns die Wahrheit. Immer. Auch wenn wir uns mit unseren inneren Pfoten unsere inneren Ohren noch so fest zuhalten: hilft nix.
In der letzten Szene von „Eine blaßblaue Frauenschrift“ sitzt Leonidas Tachezy mit seiner Frau Amelie in einer Staatsopern-Loge bei „Der Rosenkavalier“ und schläft in der Vorstellung ein: „Während er unter der drückenden Kuppel dieser stets erregten Musik schläft, weiß Leonidas mit unaussprechlicher Klarheit, daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, dass er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.“
Ein rettendes Angebot.
Das rettende Angebot unserer inneren Stimme verstummt nicht. Aber es ändert die Tonlage, klingt irgendwann schrill und giftig, vielleicht nach Tinnitus, Burn-out oder Überdruss, wenn wir nicht hinhören, zuhören und unserer inneren Wahrheit, der Sehnsucht nach unserem Wachsen die nötige Aufmerksamkeit geben.
Denn die innere Stimme weist uns den Weg in die wahre Richtung, mithilfe unserer Werte – also die Hauptwörter, mit denen wir unsere innere Geschichte schreiben. Wenn wir sie kennen, verschwindet diese Leere, die wir mit von uns selbst hingedrehten G’schichterln, bequemen Halbwahrheiten, Opportunitäten und anderem Zeugs, das wir in uns anhäufen, ausfüllen, in der irrigen Hoffnung, der bewundernde Blick von außen würde drinnen für Licht sorgen.
Hier geht’s einmal mehr um die vielbemühte Haltung, die wir, zumal in schwierigen Zeiten wie den heutigen, zuhauf in gefühligen Kampagnen aus den Kommunikationstrichtern von Marken und Unternehmen auf uns niedergehen lassen müssen. Kaum eine wiegt mehr als ihr eigener Schall, der Rauch verpufft dort an der Grenze, wo mit der Wahrheit gelogen wird, und der tagesaktuelle Opportunismus wuchert, so lange, bis sich die nächste Gelegenheit zum Anbiedern anbietet.
Es wäre allerdings zutiefst erstrebenswert, wenn sich Unternehmen, Marken, jeder von uns und somit dieses Gebilde namens Gesellschaft der geschundenen Haltung besännen, in positiver Weise, in einer, die allen nützt, und wenn diese Stimmen kräftigst Gehör fänden. Nur – aus einem mir bis ins Letzte rätselhaften Grund sind immer jene, die Haltung heimlich mit Eigennutz verwechseln, diejenigen, die grundsätzlich gute Dinge für den eigenen Profit missbrauchen, im atemberaubenden Übermaß geschickter im Prägen des öffentlichen Gesprächs als jene, die sich ins Sinnvolle, ins Wertvolle stürzen. Ja mehr noch: Haltung haben diejenigen, die „Profit, Profit, Profit!“ postulieren oder das Kapitol in Washington stürmen allemal, und eine verführerische Story noch dazu. So lockt uns wieder und wieder die alte Geschichte vom Bezwingen, Besiegen und Beherrschen, die wir Menschen einander seit immer erzählen: „Einer muss gewinnen, am besten die Guten, und die Guten, die sind wir, weil die anderen die Bösen sind.“
Wenn wir unseren inneren Leonidas Tachezky aber gemütlich weiterpennen lassen im „Rosenkavalier“, dann würde vielleicht etwas Anderes in uns erwachen. Es muss ja nicht gleich der aufopfernde König Leonidas sein, der mit den seinen „… den Engpaß der Freiheit mit seinem Leibe deckt …“ (Thomas Mann). Wenigstens bestünde die Chance, dass trotz vielem, was dagegen spricht, eine neue Geschichte beginnt und gehört wird, eine bessere Geschichte als die alte für uns war. Eine New Story, die von uns allen handelt und unsere Stärken multipliziert, anstatt uns, wie die alte Story, auseinanderdividiert, sobald es opportun ist.
Ich glaube, das meinte meine Großmutter, die alte Story Dudette, als sie mit ihrer dunkelblauen Frauenschrift an den Sektionschef Leonidas Tachezy schrieb: „No Story. No Glory.“