Ich habe in den letzten Wochen und Monaten eine schier unbändige Lust am Loslassen entwickelt. Oder hat sie mich befallen? Ich lasse derzeit Dinge gehen, von denen ich nicht wusste, dass sie da waren. Ballast verschwindet – herrlich!
Natürlich kommt auch das Lager dran und die vielen Dinge, die man dort aufhebt, weil es sich dabei um unwiederbringliche Schätze handelt, die einmal viel wert sein werden. Heute sieht man, dass sie meistens nicht einmal das wert waren, was sie wert waren; und deshalb seit Jahrzehnten keines Blickes würdig.
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Und Erinnerungen natürlich! Erinnerungen an Heldentaten von genialen Menschen, die man maßlos bewunderte, also: die eigenen Werber-Werke. Tonnenweise Booklets von Präsentationen an Unternehmen, von denen es manche längst nicht mehr gibt, was der Größe der eigenen Heldentaten einen zusätzlichen Farbton verleiht, der etwas an das Cape vom Boandlkramer gemahnt. Manche Booklets riechen auch ein bisschen so.
Weil ich wie jeder anständige Kreative jede Gelegenheit zur Prokrastination nütze, selbst wenn es gar nicht nötig wäre, blätterte ich beim Loslassen naturgemäß in diesem und jenem Konzept und stellte verblüffend oft fest, dass ich in Tat und Wahrheit in der Werbung bereits in einer Zeit mit Story gearbeitet habe, als ich noch keine Ahnung hatte, dass das geht. Hätte ich damals schon gewusst, was ich mache, wären meine Heldentaten möglicherweise tatsächlich solche gewesen; hoffe ich halt und erzähle es ab sofort ungefragt an jedem Lagerfeuer herum.
Aber fürs Erste bin ich die Marie Kondō meiner selbst, fege mit einem beherzten „Magic Cleaning, Baby!“ auf den Lippen durch meine Vergangenheit und lasse Dinge los, die ich zu einer Zeit gebar, als Marie noch a glint in the milkman’s eye war.
An die meisten meiner vielen Jahre in der Werbung erinnere ich mich mit Freude. Obwohl: Ich habe einiges in dieser Branche nie ganz verstanden. Das Meiste hatte schließlich mit dem Ego der Protagonisten zu tun. Ego wohnt bekanntlich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Respektlosigkeit, und die wohnt mittlerweile praktisch überall. Jedenfalls macht die Respektlosigkeit derart viele Hausbesuche, dass man meinen könnte, sie sei allgegenwärtig.
Das Ego der Werber trägt sicher dazu bei, dass ihr Platz auf der Imageskala ganz weit unten ist. Dort, wo es bei Starkregen rauffeuchtelt, drängen sie sich mit Politikern und Journalisten zusammen. Vermutlich, damit sich ihre Egos auf Augenhöhe gut anstänkern können.
Das Image der Werber war sogar schon in jenen Zeiten schlecht, als es noch gut war, und an diese Zeiten erinnere ich mich durchaus gern. Ich habe mich immer bemüht, das Beste für meine Klienten zu tun und sie mit ihrem Publikum in ein qualifiziertes Gespräch zu bringen. Manchmal ist es gelungen; oft hat sich dieses Gespräch wie ein Monolog angehört. Werbung eben, aber dennoch war meine Überzeugung stets, dass man den Respekt voreinander nicht fahren lassen sollte, nur weil man jemandem etwas verkaufen will, was der gar nicht braucht.
Gibt’s Respekt auf Spotify nur von ARETHA FRANKLIN?
Ja, der gute alte Respekt! Der ist mittlerweile obdachlos, hab’ ich im Radio gehört. In meinem Lager wäre jetzt wieder Platz frei, falls ihn jemand sieht, den obdachlosen Respekt … Wobei, ich höre gar nicht mehr Radio, sondern Spotify, und habe dort einen Basic Account. Das bedeutet, dass mir Werbung eingespielt wird. Unter anderem ziemlich doofe Spots von Spotify, in denen mir erklärt wird: Wenn ich auf einen Bezahl-Account Spotify Premium umsteige, wird mir keine Werbung mehr eingespielt. Auch keine doofen Spots von Spotify.
Dieser Deal wäre tatsächlich ein Überlegung wert: „Gib uns Geld, dann scheißen wir dir nicht mehr ins Hirn.“ Das kennen wir ja auch von Bild, Krone und Österreich, nur umgekehrt, was nach rein wirtschaftlichen und hygienischen Gesichtspunkten den Spotify-Deal mit einer Aura Brigitte Bardotscher Unwiderstehlichkeit umweht.
Auf einem Nachrichtenportal las ich dann eine dazu passende Meldung über eine werberische Heldentat von Kentucky Fried Chicken, die im sonnigen Dubai über die Bühne ging. Die Superstars der dort tätigen Werbeagentur Memac Ogilvy konnten drei Kunst schaffende Kunstschaffende namens Flipperachi, Moh Flow und Shébani davon überzeugen, es sei eine gute Idee, wenn sie ihre Profilbilder, Header und sogar Album-Covers auf ihren Spotify-Profilen durch Fotos des neuen Kentucky Burgers ersetzen. Damit Werbung auch bei denen herausrinnt, die Geld für Spotify Premium ausgeben, damit sie keine Werbung mehr sehen. Und meine Theorie, dass Advertising mittlerweile zu Adverstalking umgebaut wurde, ist einmal mehr offiziell bestätigt.
Achtung: Zwischenruf!
Natürlich wissen wir, dass im Freibad alle Kinder in den Pool pinkeln. Aber wenn der erste sein Brünnlein vom Dreimeterbrett springen lässt, dann wird ein Zwischenruf vom Badewaschl fällig, und in diesem Fall lasse ich einen solchen los.
Liebe Ogilvys, liebe Spotify, liebe Flipperachi, Moh Flow und Shébani, liebe KFCs: Das ist keine gute Idee, das ist Respektlosigkeit in einer Dimension, die selbst einen an systemgastronomisches Burger-Futter und Formatradio gewohnten Magen umdreht. Ehrlich, jetzt. Auch für jene, die eine gute Idee nur daran erkennen, dass sie Geld damit verdienen können, ist’s dann doch auch wieder einmal gut, oder?
Kentucky Fried Chicken, in eurem Mission Statement steht zu lesen: „We have three very simple house rules: Be your best self. Make a difference. Have fun.“ Das ist euch in Dubai ja prächtig gelungen!
Spotify kassiert Geld von Leuten, die ihr Geschäftsmodell desavouieren, und zeigt damit, was das eigene Mission-Statement wert ist: „… to unlock the potential of human creativity by giving a million creative artists the opportunity to live off their art and billions of fans the opportunity to enjoy and be inspired by these creators“. Es ist genau so viel wert, wie man für einen Basic Account bezahlt.
Flipperachi, Moh Flow und Shébani lassen für eine Handvoll Dollar zu, dass sogar ihre Albumcovers durch das Bild eines Burgers ersetzt wird? Gut, ich kenne manchen Künstler, bei dem würden die Fans angesichts dessen bloß denken, er hätte eine neue Frisur. Aber die künstlerische Integrität dieser Musiker schläft wahrscheinlich unter irgendeiner Brücke neben dem Respekt vor ihren Fans.
Und ihr bei Memac Ogilvy – habt ihr wirklich nur Leute, deren beste Idee es ist, Menschen, die ein „Bitte Ruhe“-Schild an der Tür hängen haben, den neuen Kentucky Burger durchs Fenster zu kotzen? Glaubt ihr allen Ernstes, von denen finden das so viele gut, dass sich die Kampagne auszahlt, oder geht’s euch um die Earned Media, die’s dafür gibt? Oder vielleicht um einen Werber-Preis?
Ganz ehrlich: Ist euch das nicht auch ein bisschen peinlich vor euch selbst und euren Ansprüchen – und Moment …: Riecht ihr das? Schnuppert mal … das riecht doch ein bisschen wie … ja, genau: wie eines meiner alten Konzepte aus dem Lager, so ein wenig nach Boandlkramer. Kann das sein, dass die, die sagen, Werbung sei tot, recht haben werden? Und wenn ja, dann ist übrigens nicht das Internet schuld daran, sondern ihr und eure unfassbare Respektlosigkeit.
Und: Sagt euch bei Memac Ogilvy der Name David Ogilvy was? „The customer is not a moron. She’s your wife.“ David Ogilvy wusste solche Sachen. Was er nicht wusste, ist, dass nach seiner Zeit auf Erden in Büros, an deren Türe sein Name steht, solche Leute wie ihr arbeiten werden, die ohne jeden Respekt Kunden wie Idioten behandeln.
Leo Burnett, auch einer der alten, verblichenen Werbeikonen, hielt am Tag seiner offiziellen Pensionierung im Jahre 1967 eine außergewöhnlich Rede unter dem Titel „When to take my name off the door“
Er sagte, dass ein Tag kommen werde, an dem er vom Himmel auf die Erde zurückkehren und eigenhändig seinen Namen von der Türe reißen wird. Es ist der Tag: „… when you spend more time trying to make money and less time making advertising – our kind of advertising. … When you are no longer what Thoreau called a corporation with a conscience – which means to me, a corporation of conscientious men and women. … When you begin to compromise your integrity – which has always been the heart’s blood – the very guts of this agency.“
Unsere Story gibt uns Orientierung.
Es geht um Respekt und Integrität bei allem, was wir tun. Wofür wir uns entscheiden und wogegen. Vor allem auch im Business: Womit verdienen wir Geld, und wie? Dabei helfen uns unsere Werte, unser Weltbild, unsere Story. Roy Disney sagte: „It’s not hard to make decisions once you know what your values are.“ Unsere Entscheidungen zeigen, wer wir sind, wenn wir in unserer Geschichte wieder einmal vor der Wahl stehen, die ihren weiteren Verlauf bestimmt. Das ist die Essenz unserer Story, der Story unserer Unternehmungen, unseres Unternehmens und unserer Marken.
Es gibt zwei Wege, den richtigen und den leichten, heißt es. Jeder kann sich selbst entscheiden, denn jeder weiß selbstverständlich instinktiv, welcher der richtige Weg ist. Auch im Business. Gehen muss man ihn halt auch.
So dämlich kann ja niemand sein, weder bei Spotify noch bei Ogilvy, KFC oder bei den Künstlern, dass man nicht bemerkt, was man tatsächlich tut: Den Spotify-Usern ins Hirn scheißen. Die Österreichische Kabarettgruppe „Die Hektiker“ hat übrigens zum Thema „Musik & Business“ vor Jahren ein hübsches Video produziert, ein Klassiker fürwahr und auf YouTube, dem Endlager fürs Bewegtbild, zu besichtigen.
Immer öfter hört man neuerdings Menschen von Achtsamkeit reden, gerade auch im Zusammenhang mit Business und Brandstory. Das ist gut und richtig. Es wäre ja bereits viel gewonnen, würde, bevor dieses Thema ausgewalzt wird, der Geist von Marie Kondō ein wenig Magic Cleaning bei den zuständigen Spezialisten vollführen und zuerst einmal die Un-Achtsamkeit entsorgen. Das geht mit den Kontrollfragen aus der KonMarie-Methode ganz leicht:
Inspiriert mich dieses Ding?
Macht es mich glücklich?
Schenkt es mir Freude?
Schwupps, schon liegt die Un-Achtsamkeit in der Restmülltonne, und wir haben Platz geschaffen für ein paar Anzucht-Kisten für das zarte Pflänzchen Achtsamkeit – gefüllt mit einem fetten Humusgemisch aus Respekt und Integrität.
Bertolt Brecht sagte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Und er sagte auch: „Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, daß A falsch war.“ Jeder, der das erkennt, kann in dieser Sekunde seiner Story die richtige Richtung geben, kann einen anderen Weg einschlagen, ihn zumindest einmal beginnen. Jeder, der das erkennt, kann tatsächlich gar nicht mehr anders. Schritt für Schritt, kleiner Erfolg nach kleinem Erfolg, auch wieder einmal einen Rückschritt, dann wieder einen Umweg, aber in die richtige Richtung.
Dorthin wo uns unsere Story führt.
Dorthin wo der Leuchtturm unserer Werte steht, dorthin fällt unser Lichtblick. Jeder kennt das vom Fahrradfahren: Wo unser Blick hinfällt, dorthin fahren wir, und solange wir in Bewegung bleiben, fallen wir nicht um. So einfach ist das.
Das gilt für jeden von uns, das gilt für Künstler, das gilt für Unternehmen jeder Größe. Wie Unilever zum Beispiel. Dort gibt’s neuerdings einen 15-Punkte-Plan, der sichern soll, dass ihre Produkte: „responsibly communicated, responsibly sold, responsibly developed“ werden. Deshalb wird Unilever unter anderem keine Eiscreme-Werbung mehr für Kinder unter zwölf machen. Wird das die Welt retten? Ich glaube nicht. Aber es ist unter Garantie ein Schritt in die richtige Richtung. Das ist nicht das „Happy End“ der Geschichte, sondern der erste Schritt, um auf der eigenen Heldenreise Gelerntes in seiner Lebenswelt anzuwenden. In meiner Blogartikel-Serie zur „Hero’s Journey“ findest du einige weitere Gedanken dazu.
Niemand soll uns daran hindern, täglich ein wenig klüger zu werden. Unsere Werte in unserer Story helfen uns dabei, denn sie geben uns Orientierung, bringen Ordnung ins Leben und auch in sonst alles. Die Japaner sagen: „Die Unordnung im Zimmer entspricht der Unordnung im Herzen.“ Meine Großmutter, die alte Story Dudette, würde sagen: „No Story. No Glory.“
Und ich hab’ genug dazwischen gerufen, gehe jetzt wieder ins Lager und sehe nach, ob noch was in den Restmüll darf.