Markus Gull
Schreibmaschine schreibt die Wörter "The End?"

Erleben wir gerade den letzten Akt der Menschheitsgeschichte?

Jetzt ist es also bald wirklich vorbei. Was vorbei ist? Na, alles. Die Nadel zeigt nämlich auf Apokalypse: Weltuntergang sozusagen. Wer in irgendein x-beliebiges Nachrichtenportal späht, bekommt in jedem Fall mit: Das Ende der Menschheit steht gleichsam vor der Tür. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir alle vom Planeten verschwunden sind und mit welcher Methode wir dies bewerkstelligen. Wirkungsvolle Hebel dafür haben wir manche in der klammen Hand.

Die Klimakatastrophe, die wir angerichtet haben, führt eher früher als später dazu, dass wir schlichtweg nicht mehr auf dem Planten Erde leben können, weil es viel zu heiß dafür ist, während gleichzeitig das Trinkwasser nicht ausreicht und die Lebensmittel sowieso nicht. Das, was wir so hübsch als Nutztiere bezeichnen, haben wir nämlich dann längst verputzt und sonst – siehe Wasser – wächst nicht mehr viel, mit dem wir Nutztiere füttern oder uns selbst die hungrigen Bäuche vollschlagen könnten.

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Im Blogcast lese ich Dir diesen aktuellen Blogartikel vor. Mit Betonung, versteht sich!

Oder wir sprengen uns im Wege unserer reichlich bestückten Waffenarsenale aus dem Dasein. Wenn schon nicht geplant, dann vielleicht durch einen Fehler in einem System, als das wir jene von uns erschaffenen Zustände, für die niemand Verantwortung übernehmen will, gerne bezeichnen. Irgendwo klingelt die Alarmglocke, blinkt das Warnlicht, heulen die Sirenen und das für diesen Fall erstellte Protokoll wird folgsam abgearbeitet. Der Knopf wird gedrückt, weil eben diesmal keiner Dienst hat, keiner vom Format des Oberstleutnant Stanislaw Petrow, keiner, der eben nicht tut, was er befehlshalber tun müsste, sondern klugerweise als einziger das Richtige tut: er traut dem System nicht und denkt mit dem eigenen Kopf, hört auf seinen Bauch, legt das Protokoll zu den Akten. Aber Genosse Petrow hat leider grad frei, und so lösen eine Kohorte artiger, befehlsempfangender Protokollabarbeiter einen Atomkrieg aus. Was heißt einen? Den ultimativen, denn alle, die können, machen mit. Es war zwar wieder nur ein Fehlalarm, wie damals im September des 1983er-Jahres, aber eben einer minus Oberstleutnant Petrow. Somit fliegt uns alles um alle Ohren, denen wir nicht hätten trauen sollen, und das war’s dann. Dabei war’n dort am Horizont nur 99 Luftballons.

Oder, weil’s grad zu den Ohren passt, denen wir nicht trauen sollten. Nämliches gilt mittlerweile auch für unsere Augen. Selbst, wenn’s witzig ist, den Papst in seiner scharfen weißen Daunenjacke zu bewundern, selbst wenn uns Angela Merkel mit Barack Obama beim Strandvergnügen amüsiert – wir wissen zwar nicht, was aus KI noch wird, eines wissen wir definitiv: wenn dieses Zaubertool in die falschen Hände kommt, wird’s eng. Und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn’s nicht schon längst in den falschen Händen irgendwelcher Zauberlehrlinge wäre, die mit fieberhaftem Eifer Pandoras Büchse schütteln. Sie lassen nichts unversucht, damit möglichst viel für sich herauszuholen, damit abzugreifen, was für sie in allem und jedem drinstecken könnte. Denn, so haben wir’s über drei große Geschichten gelernt, die wir uns als Menschheit seit langem erzählen: was man hat, hat man, the winner takes it all und mehr ist besser. Die instrumentelle Vernunft diktiert uns Erfolgsgeschichten, deren Erfolg unter anderem damit bezahlt wird, dass es halt die Menschheit nicht mehr gibt, weil „… die ich rief, die Geister …” und so weiter. Oder besser gesagt: nicht weiter, weil diesmal der Alte Hexenmeister nicht grad noch mal rechtzeitig rettend zu Hilfe eilt. Oberstleutnant Petrow sowieso nicht. 

Todesursache Klima, Krieg oder KI? – Zutreffendes bitte ankreuzen.

Sieht es nicht ganz danach aus, als hätte wir in der Geschichte der Menschheit den Beginn des dritten und letzten Aktes erreicht? Dort, wo die Heldenfiguren in allen bewegenden dramatischen Geschichten, vom Steinzeit-Lagerfeuer bis zum Hollywood-Blockbuster, in ihrer ultimativen Verzweiflung ratlos stehen und angesichts des offensichtlich unabwendbaren Scheiterns jene Phase durchleiden, die man in der Dramaturgie als „all is lost moment” oder „dark night of the soul” bezeichnet. Hier werden die Weichen gestellt, in welche Richtung der Verlauf der Geschichte nunmehr in die Zielgerade einbiegt. Gibt’s einen Geistesblitz, einen Moment der Erleuchtung, eine Innenschau, um zu verstehen, dass das, was wir wollen und wollen und wollen uns wegführt von dem, was wir brauchen? Gibt’s folglich Umkehr in Richtung Happy End und geht’s weiter zur anschließenden Heimkehr – geläutert, klüger als zuvor und ein wenig über sein Ego hinausragend, ein bissel über den eigenen Tellerrand raushängend?

Oder erfüllt sich gar eine Prophezeiung von Wilhelm Busch in der Causa Max & Moritz „Aber wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!”? Biegen wir also in Richtung Tragödie ab, lernen nichts, entsorgen uns selbst und sorgen so für eine Katharsis in der Tradition des Aristoteles im alten griechischen Drama: der Held geht an seiner Hybris zugrunde, das Publikum lernt daraus fürs eigene Leben. In diesem Falle allerdings mit einer kleinen abweichenden Einschränkung vom Originalkonzept. Der kathartische Lerneffekt fürs Publikum bleibt nämlich aus, weil’s kein Publikum mehr gibt. Das Publikum wurde längst Teil der Handlung. Paulus Manker hätte mit dieser „Show biz ans Ende” eine orgiastische Freude, während Karl Kraus gerade am Remake von „Die letzten Tage der Menschheit” schreibt.

Wenn wir uns umsehen, finden wir kaum Anhaltspunkte für einen gegenteiligen Ausgang als den tragischen, für die Geschichte unserer Spezies namens Mensch, auf ihrem oft als Heldenreise bezeichneten Weg vom Tertiär bis herauf ins Anthropozän. Unser dritter und letzter Akt hat begonnen.

Alles auf Anfang?

So kann man das sehen, muss man aber nicht. Ich muss jedenfalls nicht, denn als Optimist aus Notwehr habe ich aus Prinzip Hoffnung. Meinetwegen sollen die Pessimisten am Ende recht behalten, ich als Optimist habe hingegen bis dahin unter Garantie das erfreulichere Leben.

Was wäre also, wenn wir – der Mensch – hier und heute nicht den dritten Akt unserer Geschichte, sondern grad mal den ersten erleben? Und wir in ausreichender Zahl und Kraft das tun, was eine wunderbare Geschichte erst in Gang bringt, nämlich aufbrechen in unsere große, lange Zeit der Bewährung, in den zweiten Akt?

Du erinnerst dich an Das kleine Story ABC?
A B C – Aufbruch, Bewährung, Comeback – als kleinster dramaturgischer Nenner jeder Geschichte?

Hier noch mal:

Aufbruch – aus der gewohnten Welt. Alles ist gut, alles ist gewohnt, aber es gibt da ein Problem, eine Ungerechtigkeit, etwas schmerzt furchtbar, drängt unwiderstehlich oder ruft unüberhörbar, und zwar so unerträglich, dass die Angst vor dem wartenden Unbekannten kleiner ist als das Unbehagen durch das Verharren im hier Bekannten. Die Heldin bricht auf. Weil sie getrieben wird, so oder so – auch durch eine lauernde Katastrophe.

Bewährung – in einer neuen, unbekannten Welt. Mit allem Auf und Ab, bewältigten Gefahren, Spiel und Spaß, besiegten Feinden, gewonnenen Freunden und vor allem gewachsen, gereift und verwandelt dank gewonnener Erkenntnis.

Comeback – in die alte Welt. Der alles entscheidende Wirkungsbeweis wird nun bei der Rückkehr der Heldenfigur in die alte Welt erbracht, wenn sie zeigen kann, ob sie etwas gelernt hat und wenn ja, was. Ob sie dadurch gewachsen ist, ob sie sogar als eine bessere Version von sich selbst zurückgekehrt ist und die erlernte Kostbarkeit mit den ihren teilen kann. 

Wäre es nicht denkbar, dass alles, was wir derzeit so schmerzlich empfinden, was wie Weltuntergang stinkt und dröhnt, in Tat und Wahrheit nichts anderes ist als der drängende Anstoß zum Aufbruch aus unserer gewohnten Lebensart, die uns und dem Planeten so unerträglich schwer zu schaffen macht? Ist der Schmerz möglicherweise rechtzeitig groß genug, damit wir endlich aufbrechen aus der Welt von Bekämpfen und Besiegen, the winner takes it all und mehr ist besser? Vielleicht ist das ja gar nicht das Ende der Menschheit, sondern das Ende der Zuvielisation, in der wir mit Geld, das wir nicht haben, Sachen kaufen, die wir nicht brauchen, um Menschen zu beeindrucken, die wir nicht mögen (© Tyler Durden | Chuck Palahniuk)?

Vielleicht ist das, was viele von uns als drohenden Verlust befürchten und mit Zähnen und Klauen abwehren wollen, tatsächlich eine dornige Befreiung?

Ja, was wäre, wenn unsere Geschichte jetzt erst los ginge, wir grad mal den ersten Akt erlebt haben und jetzt in den zweiten aufbrechen können, in die Bewährungsproben einer neuen Geschichte, in eine NEW STORY?

In eine neue, eine große, eine bessere, eine echte Story, die wir mit ganz neuen Narrativen und Erzählungen teilen und so Bewegung in die Menschen und Menschen in Bewegung bringen können. Und zwar in Richtung einer besseren Zukunft, in der wir einander unterstützen anstatt bekämpfen. In eine Zukunft, in der wir leben wollen, und wollen, dass unsere Kinder,  Enkelinnen und Enkel dort leben, leben können, sie überhaupt erleben können. Eine Zukunft des Ermöglichens anstatt der heutigen Gegenwart des Verhinderns und des Gegeneinander-Ausspielens. Eine Zukunft der Kooperation, der wechselseitigen Unterstützung, des Verstehens, der Herzensbildung. In dieser Zukunft müssen wir das Sinn-Vakuum in uns, in unseren Unternehmen und in unserer Gesellschaft nicht mehr durch Konsum und durch materielles Wachstum, also über die Ausbeutung von Ressourcen, vergeblich zu stopfen versuchen. Dort entsteht der Sinn gleichsam von selbst.

Das geht unter Garantie nicht schnell. Der zweite Akt ist stets der längste in jeder Geschichte. Deshalb müssen wir unbedingt in Generationen denken, und an allen Orten braucht’s Gleichgesinnte. In der Bildung, in der Wirtschaft, in der Politik, vor allem in der sogenannten Zivilgesellschaft braucht’s Anführerinnen und Anführer – solche, wie diese wunderbaren engagierten Menschen, die heute dort vielfach schon zu Werke gehen; Menschen, die mit heißem Herz, kühlem Kopf und ruhiger Hand nicht auf alles eine schnelle Antwort gurgeln, sondern die richtigen Fragen stellen. Zum Beispiel: Was wäre, wenn wir ab sofort nicht mehr auf Komfort verzichten, sondern uns vom Unmaß befreien?

Und es ist hoch an der Zeit, dass wir die fetzendoofe Geschichte eingraben, die „das gefährdete Überleben des Menschen am Planeten Erde“ verzapft. Der Mensch ist Bestandteil des Planeten, nicht Bewohner. Der Planet ist ja keine Kugel, auf dem wir und ein Haufen Viecher herumrennen und Pflanzen gedeihen, sondern eine Gesamtheit. Das Meer ist ja auch keine Wassermasse mit Korallen, Algen und (noch) Fischen drin – die Fische, Korallen, Algen und das Wasser sind das Meer in ihrer Gesamtheit.

Das wären doch neue Geschichten, eine neue Perspektive, eine neue Option: die NEW STORY, die wir dringend brauchen.

Diese Geschichte erzählt auch von Hoffnung, und das passt ja ganz gut zu Weihnachten. Denn die Idee des Lichtfestes Weihnachten könnte ja auch ganz unabhängig von religiösen Bekenntnissen sein, dass mit jedem Kind, das geboren wird, auch die Hoffnung in die Welt kommt, dass durch dieses Kind diese Welt eine bessere wird, ja sogar gerettet.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man. Ich sage: die Hoffnung lebt zuerst. Zum Beispiel jene, dass dieses Kind bereits da ist und aussieht wie du, oder wie ich, oder wie wir, dass diese Kinder die neue, relevante Geschichten gut erzählen und sie von ausreichend vielen geteilt wird, damit sich etwas zum Besseren bewegt. Denn: ändere die Story, dann änderst du die Welt.

Wäre es also nicht lohnender, anstatt Verzicht, Verlust und Verzweiflung an die Wand zu malen, die Geschichte von der Befreiung vom Zuviel zu teilen? Davon zu erzählen, was wir alles gewinnen würden, jede:r Einzelne von uns und wir alle miteinander? Das Bild von einer Welt auszumalen, in der wir nicht mehr von den Dingen besessen werden, von denen wir besessen sind, sie zu besitzen, sondern „love people, use things“ aufs Banner zu schreiben, wie es Bischof Fulton J. Sheen bereits vor hundert Jahren auf den Punkt brachte.

Wenn wir schlau sind und unsere neue, unsere bessere Geschichte der Menschheit richtig erzählen, stehen wir erst am Beginn ihres wundervollen zweiten Aktes.

Auch deshalb brachte meine Großmutter, die alte Story Dudette, in jener Zeit mit einem etwas zu kurzen Kleidchen als Engel verkleidet den staunenden Hirten am Felde die frohe Kunde: „New Story. New Glory.“

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