Corona-Story: Wendezeit – wer wirst du gewesen sein?

In dieser aufgeregten Zeit, in der alles nach Corona klingt, vermisse ich einige Stimmen noch schmerzlicher als ich sie sonst schon vermisse. Eine davon gehört Axel Corti, und es ist jetzt auch schon bald wieder 27 Jahre her, dass diese Stimme zum letzten Mal wie vorgesehen im Radio erklang, am Stefanitag, bevor sie drei Tage später unter dem endgültigen Schalldämpfer verstummte, auf Erden verstummte. In diesem seinem letzten offiziellen Beitrag erzählt Axel Corti die Legende vom Rabbi Hillel so:

„Rabbi Hillel, dem großen, weithin gerühmten, dem weisen Rabbi Hillel, der verehrt wurde von seinen Schülern und Anhängern wie kein anderer und der doch ein ganz bescheidener, stiller Mann geblieben war zeit seines Lebens, dem Rabbi Hillel gelang es, wie die chassidischen Legenden berichten, für einen kurzen Augenblick aus dem Jenseits zurückzukommen. Ja, so stark waren seine spirituellen Kräfte, so tief war die Frömmigkeit des Rabbi, dass ihm solches, ja – erlaubt wurde. Denn er lag auf seinem Sterbebett. Auch die großen, weisen, ganz verinnerlichten, heiligmäßigen Lehrer sterben ja eines Tages. Seine Schüler, seine Anhänger rings aus dem ganzen Land waren gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie standen stumm betend um sein Bett und sahen, wie das Gesicht des Rabbi Hillel heller und heller, strahlend wie ein Licht wurde, sein Atem wurde klein und immer kleiner, aber von innen her leuchtete der Rabbi, dass das Zimmer strahlte und gleißte und geradezu funkelte. Auf einmal schlug der Rabbi die Augen auf und begann zu sprechen, nicht laut, aber ganz und gar verständlich. Er sagte: „Es ist alles ganz anders, das darf ich euch sagen. Ich habe gehört, was Gott in der strengen Prüfung fragt: ,Wer warst du?‘, fragt er. ,Wer hast du dich bemüht zu sein?‘ Und wenn die Geprüften anheben, ihre guten Vorsätze und ihre Absichten und ihre Mühe darzulegen, besser zu werden, besser als sie selbst, dann sagt der Vater von uns allen: ,Nein, du musstest nicht Abraham sein, du musstest nicht Moses sein, du musstest kein Heiliger sein, kein anderer, sondern: Warst du der Rabbi Hillel, bist du der gewesen, der Rabbi Hillel, du?‘ So geht die Frage in der anderen, in der wirklichen Welt. Und als er das seinen Schülern gesagt hatte, löschte das Licht des Rabbi Hillel ganz still in einem wunderbaren Schein aus. So geht die Legende der Chassidim. Und die ist nicht schlau zu kommentieren, nicht zu beweisen. Sie trennt das Wichtige vom Unwichtigen. Sie liefert kein Rezept – sie verlangt mir etwas ab. Ich muss mir klar werden über etwas, ich muss wohl damit anfangen … Ist das nicht so? Das Leben verlangt von uns nicht, ein Heiliger zu werden. Aber da gibt’s die Chance, einen Gedanken dahin zu schicken, wie man der Rabbi Hillel wird: nämlich man selbst.“


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Im Blogcast lese ich Dir diesen aktuellen Blogartikel vor. Mit Betonung, versteht sich!

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Solche Geschichten konnte Axel Corti erzählen wie kein Zweiter, wie kein Zweiter mehr. Mit dieser seiner Stimme die Stimme erheben, ganz leise, ganz und gar unüberhörbar für alle, die verstehen wollten, also zuhörten, was damals ging auf Ö3, der ja – die alten Ohrologen wissen das noch – einmal ein Radiosender war und also dort auch der Zwischenton mitunter erklang.

Geschichten wie die Legende vom Rabbi Hillel, das sind die Geschichten über Verwandlung, wie ja jede brauchbare Geschichte von Verwandlung erzählt, weil Geschichten Verwandlung anstoßen und uns bei der Verwandlung helfen, wir uns damit ein Stück Welt erklären, einander begreiflich machen, vielleicht sogar verständlich und uns so ein bisserl Kraft herausziehen. Das ist die weise Verwandlungskraft von Storys.

Wer waren wir?

Eine andere Stimme, die mir – und wie ich meine uns allen – fehlt, ist die von Roger Willemsen, dessen Zeit auf Erden nicht ausreichte für sein letztes Buch. „Wer wir waren“ sollte es heißen und unsere Gegenwart aus der Zukunft betrachten. Aber auch er ließ uns etwas da von seinem letzten öffentlichen Auftritt, bei dem er in einer Zukunftsrede  Gedanken für sein ungeschriebenes Buch zusammenfasste. „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten“, sagte Roger Willemsen dort.

Jetzt ist es ja so, dass die allermeisten von uns pumperlgesund sind und schon gar nicht am Rande des Abschieds stehen, zum Glück, und vermutlich wird es zwar einige Zeit dauern, aber nicht so arg lange, dass man beginnen wird, Geschichten über die Zeit vor Corona und nach Corona zu erzählen, die tatsächlich eine Zeit der Verwandlung ist; und die Geschichten darüber werden deshalb besonders brauchbar sein. 

Geschichten geben uns Antworten, aber noch besser: sie stellen Fragen, und die Corona-Geschichte stellt zuerst einmal allerlei in Frage, und so, damit sie brauchbar bleibt, die Frage: Wer werden wir nach Corona sein, und wer werden wir vor Corona gewesen sein? Haben wir uns verwandelt? Sind wir der Rabbi Hillel geworden, also wir selbst, und wird uns das besser gefallen, was wir wurden, nachdem wir wahrscheinlich nicht mehr sein werden, wer wir waren?

Wenn wir dann zurückschauen: Erkennen wir dann, wer wir gewesen sind, und dass Corona – wenn man das von einem Virus überhaupt sagen will, sagen darf – nötig war, Not-wendig? Oder erzählen wir eben nur über eine Katastrophe, eine Seuche, eine Heimsuchung, eine völlig unnütze, weil missverstandene Krise, weil Max Frisch überhört wurde: „Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“?

Warst du vor zehn Tagen auch blöder?

Wenn wir wissen und verstehen, voll Information und dabei doch auch voll Erkenntnis, haben wir recht gute Chancen, hatten selten bessere; obwohl wir schon einige verdammt gute hatten und nicht nutzten, oder schlampig nutzten, eben so, wie’s halt eh gereicht hat. Wie so vieles halt eh gereicht hat. Passt scho! Schaut ja grad niemand her, und die anderen tun’s ja außerdem auch. Blöd werd ich sein! Ja …

Die milanesische Filmemacher-Gruppe A Thing By hat Menschen in ganz Italien gebeten, eine Nachricht an ihr Vergangenheits-Ich von vor zehn Tagen aufzunehmen, als Botschaft an die Länder, die in der Corona-Entwicklung ca. zehn Tage hinter Italien liegen. Auf YouTube gibt’s das Ergebnis zu sehen:

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Das sind Nachrichten von Menschen an die, die sie gewesen sind – randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung, von sich selbst nicht aufgehalten. 

Wer war ich vor zehn Tagen?
Hm …
Mit Sicherheit war ich etwas blöder als heute.

Müsste man sich ein Anschauungsbeispiel ausdenken für das Modell der Heldenreise, Joseph Campbell selbst wäre vermutlich kein besseres eingefallen als das, was wir jetzt live erleben, im Anschauungsunterricht, im Erlebnispark unter die Nase gerieben bekommen.

Du wirst jede der 17 Stationen des ewigen Hero’s-Journey-Mono-Mythos entdecken, die Heldenreise in der Fingerhut-Essenz siehst du schon jetzt: Eine Heldin (du, ich, die Welt-Bevölkerung) wird durch ein massives Ereignis aus ihrer gewohnten Welt, aus ihrer Komfortzone herausgeschleudert und sieht sich gezwungen, einen übermächtigen Gegner im Außen – als Symbol für die antagonistische Kraft in unserem Inneren – zu besiegen, besteht dabei Prüfungen, durchlebt Abenteuer und wächst schließlich in der reinigenden Qual der Katharsis über sich selbst hinaus, gewinnt so die entscheidende Erkenntnis, die zur Verwandlung zum besseren, zum echteren Ich führt. Mit dieser Erkenntnis kehrt die Heldin heim in die alte Welt, teilt dort – wenn alles gut geht – die Erkenntnis zum Wohle aller und verwandelt diese alte Welt in eine bessere neue.

Würde Joseph Campbell uns nicht von irgendwo anders listig beobachten, läge er angesichts dieses Schulbeispiels unter Garantie mit einer prächtigen Erektion in der Grube.

Was tut die Corona-Story mit uns als Gesellschaft, mit jedem Einzelnen von uns, als Helden in diesem Kapitel der Zeitgeschichte? Was fragt sie uns? Sie fragt uns ganz sicher: „Wer wirst du sein, nachdem du diese Heldenreise durchmessen hast? Wirst du der König Artus sein? Und welches Excalibur-Modell hast du dann in der Hand, wenn du der König Artus bist, du, bei deiner Heimkehr in deine gewohnte Welt, nach dem gemäßen Ende und dem steinigen Heimweg? Was wirst du dort anfangen mit deinem Schwert, deiner Erkenntnis? Wirst du es führen wie eine wahre Königin, oder schlampig nutzen, eben so, wie’s halt eh reicht, und war also wieder alles umsonst?“

Wer werden wir geworden sein?

Es ist Wendezeit, und wenn ich dieses Wort benutze, fällt mir augenblicklich das gleichnamige Buch von Fritjof Capra ein, das mir wie vielen, vielen anderen damals, nach 1983, ein wichtiges Werk war. Ich habe es vermutlich nicht ganz verstanden, aber es fühlte sich verdammt gut an, es zu lesen, weil wir, ich und die vielen anderen damals einer Meinung mit Fritjof Capra waren: „Weiterleben kann die Menschheit nur, wenn sie von Grund auf anders denken lernt. An die Stelle von quantitativem Messen muss qualitatives Werten treten – eine ganzheitliche, ökologische Anschauungsweise, die unser bankrottes mechanistisches Weltbild ablöst. Denn unsere Welt ist mehr als die Summe ihrer Teile.“

Wenigstens das haben wir verstanden, damals. Damals schon.
Hat es was geändert?
Hat es uns verändert?
Haben wir was verändert?
Das sind so Fragen …

„Wer und was werden wir geworden sein, im Laufe der Wendezeit?“, fragt uns die Corona-Story schon heute, am Anfang; und sie fragt im selben Atemzug, ob Karl Kraus recht hat: „Es scheint der Menschennatur verhängt zu sein, durch Erfahrung dümmer und erst durch deren Wiederholung klüger zu werden, und besonders die Intelligenz muss viel mitmachen, bevor sie zu der Einsicht gelangt, dass eine Freiheit, die ihre Vernichtung herbeiführen würde, nur durch Hemmung zu retten ist.“ Sind wir bitte endlich so weit, bitte?

Das ist es, wovon wir reden, wenn wir von Story reden, und warum Storys uns stark machen als Menschen, als Teams, als Gesellschaft – und aktuell als Menschheit, wenn wir sie verstehen. Storys helfen uns bei der Verwandlung, nicht nur die erzählten, sondern auch – und vor allem – die erlebten und dadurch erkannten.

Jede Story besteht ja aus zwei Storys: der äußeren Handlung und der inneren Verwandlung, aus der äußeren Story, die erzählt, was war, und der inneren, die von unserer Wahrheit handelt.

Werden wir gereinigt sein, oder nur desinfiziert?

Wir haben erstmals in der Geschichte der Menschheit einen ganz aktuellen gemeinsamen Gegner von außen, der uns unsere innere antagonistische Kraft in einer Deutlichkeit um die Ohren fetzt, die ihresgleichen sucht. Wir haben erstmals eine echte gemeinsame Story, und wir haben gleich noch vier weitere massive Storys am Programmzettel, gegen die Corona irgendwann in der Zukunft im Vergleich als just another bump in the road mitspielen wird, steht zu befürchten:
– digitale Transformation samt künstlicher Intelligenz
– Klimakrise
– Weltfrieden
– Völkerwanderung vulgo Flüchtlinge

Was wir jetzt durchleben, hat Aristoteles in der Poetik als Katharsis bezeichnet, als Reinigung durch die Qualen von Jammer, Rührung, Schrecken und Schauder zur Läuterung der Seele. Ein Heilfasten gleichsam, zur Reinigung und Entschlackung von den Giften, die wir uns im Laufe der Zeit in immer größerer Dosis zugeführt haben. Fasten ist ja mehr Befreiung als Verzicht, auch wenn es sich genau umgekehrt anfühlt und uns, während wir zuhause sitzen, das unterbewusste Gefühl von Hausarrest, Strafe und Kranksein begegnet, obwohl das Gefühl von Nachsitzen weit stimmiger wäre: Jetzt können wir nachlernen, was wir längst wussten.

Nicht, dass Corona ursächlich damit zusammenhinge, aber die jetzt herrschenden Lebensumstände, vom am Grundakkord der Einschränkung gestimmten Soundtrack begleitet, und die Not, die wir dadurch sogar an Stellen spüren, an denen sie doch überhaupt nicht brennt, sind ein deutlicher Hinweis, dass für jeden von uns einiges gehörig aus dem Ruder gelaufen ist. Wie spinnert das ist, was wir als normal empfinden, diesen ewigen Mehr-Blick auf Kosten des Weitblicks! 

Ja, nach dem Zweiten Weltkrieg war mehr für lange Zeit ein anderes Wort für besser, für Wohlstand und für Auferstehung. Jedes Trumm mehr machte das Leben besser, jedenfalls für den Augenblick. So geht Wachstum, aber wenn dann Wachstum einmal sein eigener Selbstzweck ist, wird’s krebsig.

Was sollen wir uns denn noch alles zum wievielten Male kaufen? Von manchem kann man zwar nie genug zuhause haben – und ich denke jetzt nicht an Klopapier, sondern an Bücher –, aber von allem anderen haben doch wirklich die meisten von uns zu viel. Shoppen als Zeitvertreib – alleine, dass man seine Zeit vertreibt! –, die Ablenkung von außen, im Außen, nach außen, Ablenkung vom inneren Mangel, der so weit verbreitet ist als wäre das normal, als gehörte das so, als gehörte Zeit einfach nur vertrieben, egal wohin, als wären wir so gemeint.

Was ist bitte heutzutage noch Mangelware?

Doch die Nachfrage nach den Mangelwaren steigt exponentiell: Empathie, Sinn, Gemeinschaft, schöpferisches Tun, persönliches Wachstum – Orientierung. Man kann die Nachfrage förmlich greifen in den letzten Jahren, ja, man kann sie angreifen: in Büchern, Zeitschriften, Motivations-Workshops, Inspiration Nights, Blogs und Kursen und solchen Sachen, die im „Finde deine Bestimmung“-Regal liegen. 

Es scheint, als könnte der Kollateralnutzen von Corona die Nachfrage so ankurbeln, dass die Mangelwaren wieder in Produktion gehen: Sinn, Gemeinschaft, schöpferisches Tun, persönliches Wachstum – Orientierung. Wenn eine ausreichende Menge an Menschen etwas will, dann gibt’s das. Und wenn wir wieder Orientierung hätten, wo kämen wir denn da hin, bestenfalls, nach gewisser Zeit, unvertriebener Zeit?

„Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen?“, fragte der Schweizer Pfarrer Kurt Marti. Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, einmal nachzusehen. Zeit hätten wir, und Zeit wär’s auch, allerhöchste sogar. – Tipping-Point voraus, Land in Sicht!

Das ist unsere riesige Chance, die uns jetzt gerade in die Hand gedrückt wird, aufs Auge sogar, ans Herz gelegt, die unbezahlbare Chance für uns Menschen auf diesem Planeten: dass die Corona-Story irgendwann nicht als Tragödie erzählt wird, sondern vielleicht sogar als Heldenepos, und dass wir die Helden sind: du und ich.

Was werden wir dann geworden sein? Was werden wir gelernt haben, erkannt, verstanden und in unserer alten Welt verwandelt? 

Vielleicht werden wir verstanden haben, dass die Wirtschaft nicht die Wirtschaft ist, sondern jeder Einzelne von uns, und gerade die, die jetzt noch an der Arbeit sind, dort, wo sie es vorher auch waren, weil sich Pflegen und Versorgen und Reinigen und Liefern aus dem Home Office zwar bestellen, aber nicht erledigen lässt. 

Vielleicht wird die Wirtschaft verstanden haben, dass sie nicht die Wirtschaft ist und der Rest von uns im Gegenzug nichts mehr ist als Nielsenzahlen, Bestellnummern, Datensätze, Klickraten und ein Haufen Humankapital, und dass Shareholder Value der Ökonomie-Fachbegriff für Pornografie ist. Bereits jetzt verstehen wir: Der vollmundig zitierte Satz „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“, ist die fürs Schaufenster als Punschkrapferl verkleidete Wahrheit, die jedem hier und heute um die Ohren fliegt: „Geht’s der Wirtschaft schlecht, geht’s uns allen schlecht.“

Ach, die Wirtschaft.

Vielleicht werden wir verstanden haben, wenn wir „Die Goldene Regel“ hören, dass es uns allen besser geht, wenn wir dabei nicht an die Version von Frank Stronach denken („Wer das Gold hat, macht die Regeln“), sondern an die vom Rabbi Hillel: „Was dir nicht lieb ist, das füge auch deinem Nächsten nicht zu.“ So einfach ist das Leben nämlich manchmal.

Vielleicht werden wir verstanden haben, dass mit „Macht euch die Erde untertan!“ nicht gemeint ist „Friss, was du erwischen kannst, aber poste es vorher noch auf Instagram“, sondern: „Sei ein wahrer König!“ Das bedeutet in der Exegese von Mufasa, immerhin Der König der Löwen: „Während andere danach suchen, was sie noch nicht genommen haben, sucht ein wahrer König nach dem, was er noch nicht gegeben hat.“

Vielleicht werden wir gelernt haben, dass die doppelte Buchhaltung unseres Daseins nicht in den Kolonnen von Soll und Haben, sondern von Sein und Werden geführt wird. Dass wir uns nicht entwickeln, wenn wir uns fragen, was wir haben sollen, sondern uns bemühen, dass wir das sein werden, was wir sein sollen. 

Was werden wir brauchen?

Vielleicht werden wir, was wir jetzt nicht haben, nicht mehr haben, gar nicht mehr brauchen, weil es uns ja, bitteschön, nicht einmal fehlt, sondern uns nur schwer macht, unbeweglich, müde, also Energie bindet, die uns andernorts fehlt? 

Vielleicht werden wir im Kielwasser von Minimalismustrend und der Schneise von Marie Kondos Ausräumpanzer entdeckt haben, dass Habschaft ein anderes Wort für Ballast sein kann und weniger ein anderes Wort für freier, weil danach immer noch genug da ist, wenn man die Perspektive von Verzicht auf Essenz richtet. Und dass auch Beziehungen Glumpert sein können, nur halt nicht am Dachboden, sondern im hinteren muffigen Seelenloch verräumt, in der Bananenschachtel, die an den Ecken schon leicht vor sich hin und hinter uns her schimmelt. Ja, da ist auch noch was drin, wie man riecht, ganz drauf vergessen.

Vielleicht werden wir die Grenzen zwischen digitaler Kommunikation und Stalking geklärt haben, verstanden haben, dass das beste Meeting oft ein E-Mail sein kann und kein E-Mail besser als ein Gespräch.

Vielleicht werden wir uns selbst wieder näher gekommen sein und bei dieser Gelegenheit auch einander; verstanden haben, dass das eigene Leben vor allem einmal mit einem selbst zu tun hat und nicht erst im gewonnenen Vergleich mit dem Leben der anderen ein gutes Leben wird.

Vielleicht wird sich aus unseren Trutzburgen der Fragmentar-Egoismen heraus unser Blick fürs Ganze geschärft haben, und wir werden erkannt haben, dass wir Teil dieses Ganzen sind, es also widersinnig ist, von „den anderen“ zu sprechen, weil wir mehr als nur im selben Boot sitzen, sondern dasselbe sind, immer und überall. Und dann wird uns womöglich aufgefallen sein, dass man zwar „in sich“, aber dennoch nicht „in die Natur“ gehen kann, weil man dort sowieso immer ist, als Teil dieses Ganzen, es also so oder so nur ein Füreinander geben kann. 

Vielleicht werden wir am eigenen Leib erfahren haben, weshalb in nach unseren Maßstäben weniger entwickelten Zivilisationen der Zusammenhalt unter den Menschen wesentlich höher ist als in unserer und: dass Teilen keine Strafe ist.

Vielleicht werden wir den inneren Zusammenhang zwischen dem Satz von Bertolt Brecht: „Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, daß A falsch war.“ und dem Gedanken von Buckminster Fuller: „Man schafft niemals Veränderung, indem man das Bestehende bekämpft. Um etwas zu verändern, baut man neue Modelle, die das Alte überflüssig machen“ erkannt haben.

Was werden wir noch erleben?

Vielleicht werden wir das – unter vielem anderen das – verstanden und mit hineingenommen haben in unsere alte Welt, als neue Option. Denn da warten dann die echten, die tiefstschürfenden, die welterschütternden Aufgaben auf uns Menschheit. Aufgaben, für die es in keinem Labor der Welt ein Medikament geben wird. Nie und nimmer.
– digitale Transformation samt künstlicher Intelligenz
– Klimakrise
– Weltfrieden
– Völkerwanderung vulgo Flüchtlinge 

Dagegen kannst du dich nicht impfen.

Wenn wir heute über eine Explosion der Arbeitslosenzahl sprechen, haben wir im Hinterkopf die Hoffnung, dass die betroffenen Menschen, nachdem der Corona-Spuk vorbei ist, dann doch wieder in Brot und Lohn stehen werden. Wenn aber die digitale Transformation so richtig umgeackert hat, werden eine Menge Menschen in keinem Arbeitsverhältnis mehr stehen und Tag für Tag das tun, was viele von uns heute bereits nach ein paar Tagen als Zumutung empfinden: zuhause sein und ihre Zeit vertreiben. 

Wie denn?

Kaum waren letzte Woche die Ausgangsbeschränkungen verkündet, gab es auch schon Vorkehrungen in Erwartung häuslicher Gewalt. Wer werden wir dann einmal geworden sein? Wer wird dann so grundsätzlich und immer aus dem – heute sozusagen normalen – Arbeitsprozess herausgenommen sein und nicht mehr vorkommen? Was fangen die von uns dann mit ihrem Leben an, in ihrem Leben an, und warum?
Wie erklären sie sich die Welt?
Wer erklärt ihnen dann die Welt? – Heidi Klum? Fellner!live?
Oder Politiker mit den einfachen, schnellen Antworten, während Abermillionen Menschen als Flüchtlinge am Weg sind?

Wie denn? 

Was Axel Corti damals schon, in den 70er- und 80er-Jahren, zum Thema durch den Schalldämpfer sagen musste, könnte er heute nahezu wortgleich wiederholen, müsste er, aber nicht in alle Ewigkeit bitte, bloß nicht wiederholen, wenn wir, ja, wenn … wir vielleicht … wenn wir vielleicht doch verstanden haben werden, dass die Seuche, das Elend der Flucht, das sich verbreitet, nicht an unseren Antikörpern scheitern darf, an dichten Außengrenzen, geschlossenen Routen, geschlossenen Deals und geschlossenen Augen.

„Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“ Diese Zeilen von John Donne stellte Ernest Hemingway seinem Roman „Wem die Stunde schlägt“ voran, und wir können sie als Präludium vor die Geschichte von Corona stellen, wenn wir sie einmal erzählen werden: durchgebeutelt, durchgeseucht, durchgeimpft und also herdenimmun. Denn dann hat die Stunde der wahren Anführer geschlagen, oder tatsächlich unsere letzte.

Wer wird führen, und wohin?

Vielleicht erweist uns Corona den ironischen Dienst und sorgt nicht nur dafür, dass weltweit ältere Menschen als erste Risikoträger im Haus bleiben müssen, sondern auch dafür, dass dieser ältere Mensch, dieser allererste Risikoträger, aus dem Weißen Haus fliegt. 

Vielleicht hat Corona dann unseren Verstand geschärft, so dass sich eine kritische Masse diese Bezeichnung im Wortsinn verdient haben wird, dass dann alle Darsteller entlarvt sind, die Halawachln, die Schlaucherln, die Maulhelden, die Berufsschwänzer, die Hutschenschleuderer; dass die dann endlich kritische Masse ihnen Amt & Würden entzieht, Würden sowieso, zugunsten jener, die dann – so lässt mich die Sehnsucht hoffen – mit ihren Aufgaben gewachsen, an ihren Aufgaben über sich hinausgewachsen, über ihren Schatten gesprungen und dort gelandet sind, wo erfolgreiche Politik mehr bedeutet als eine gewonnene Wahl und diese eine gebildete Regierung, weil eben ohne eine andere Wahl. Was hätte man tun sollen, bitte?

Vielleicht werden es dann die sein, die alte Zöpfe abschneiden, und die endlich, endlich bitte aus ihrer Haut herauskönnen, sie abstreifen, die alte Haut, die ja längst schon zu eng ist, überall spannt, nicht nur um die Hüften, und juckt, so fest du sie auch ein-schmierst.

Vielleicht werden die es dann sein, die verstehen, dass wir etwas mit Bildungssystem bezeichnen, das gerade einmal das Gegenteil davon ist: System ja, aber Bildung ganz und gar nicht. 

Vielleicht werden es die sein, ausgerechnet die, die ihren eigenen Maßstäben gerecht werden, und alles dafür tun, koste es, was es wolle, dass selbständige Menschen in einer starken Gemeinschaft in ihre grenzenlose Entfaltung kommen, weil sie kaum, dass sie gehen und sprechen können, auch das Fragen lernen. Selbständige Menschen eben genau deshalb, weil sie wissen und verstehen, dass man fragt, was man fragt, wie man fragt und vor allem: warum man fragt. 

Vielleicht werden wir dann eine Generation von geborenen Anführern in unserer Mitte haben, Menschen, die mit ruhiger Hand, kühlem Kopf und heißem Herz führen, jedenfalls einmal ihr Leben selbst führen.

Vielleicht geben einmal, dann einmal, ganz schnell einmal, einmal wenigstens nicht die Gescheiteren nach und den Dümmeren das Ruder in die Hand, sondern es explodiert die brennende Sehnsucht in ein Feuerwerk möglicher Wirklichkeit, in der Unternehmenslenker nicht jede Chance im Handumdrehen durch Vergolden vergeuden, nicht schwuppdiwupp abgarnieren längemalbreite, abgreifen, was es da noch zu holen gibt, sogar im Taschl der Strauchelnden.

Vielleicht werden wir dann ausreichend viele von denen am Steuer haben, die zwischen den Zeilen ihrer Job Description eine noble Aufgabe herauslesen, sich dieser ihrer Aufgabe zur Verfügung stellen und sie erfüllen, weil sie darin Erfüllung sehen und nicht zuerst im gefüllten Geldspeicher. Solche Kaliber, die wären doch was, wofür sich jede Katharsis gelohnt haben könnte!

Wird das gehen? Wird das gegangen sein?

Reicht uns das, was hier und heute geschieht, jetzt endlich als g’sunde Watschn? Als Inciting Incident für den Aufbruch zu unserer Heldenreise? 

Oder wird dann einmal das alles ja dann doch nicht soooo schlimm gewesen sein, beim dritten Vierterl besprochen, ganz ehrlich, jetzt ganz offen gesagt, was man ja eh schon immer wusste (aber auf unsereinen hört ja keiner, nicht einmal wenn wir was zu sagen hätten, was wir zum Glück nicht haben). – Was heutzutage alles ein Glück ist, da würde sogar der Tante Jolesch nichts mehr einfallen!

Wer wirst du gewesen sein, du?

Wer werde ich sein, und wer werde ich gewesen sein, ich? Und du, und wir? Wer weiß?

Ich weiß, diese Corona-Story wird uns verändern. Sie wird alles verändern, denn das hat sie jetzt schon getan. Sie besteht aus einem dichten Netz von kleinen Geschichten, in denen wir selbst die Hauptdarsteller sind, jeder in seiner. Und jeder von uns, jede von uns, kann sich darin als Heldin erweisen, weil sie das tut, was Helden auf ihrer Reise machen: erkennen, verstehen, verwandeln. 

Wenn ausreichend viele von uns das schaffen, dann wird die Corona-Story vielleicht einmal das ungeschriebene Vorwort zu Charles Eisensteins Buch „The More Beautiful World Our Hearts Know Is Possible“ gewesen sein.

Lasst es uns schreiben! Lasst uns kritische Masse sein! – Hast du Lust drauf? Ich schon. 

Offen gestanden bleibt mir auch gar nichts anderes übrig, denn schließlich war es meine Großmutter, die alte Story Dudette, die – so geht die Legende – beim Rabbi Hillel hörte: „No Story. No Glory.“

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