Ein paar Stunden pro Woche erinnert das öffentlich-rechtliche Ö3, einer der zahlreichen österreichischen Formatradiosender, ein bissel an seine Vergangenheit, als er noch ein Radiosender mit Format war. Zum Beispiel gibt’s dort seit 25 Jahren Sonntag vormittags Frühstück bei mir – Gespräche, in denen „Persönlichkeiten ganz persönlich“ akustisch erlebt werden können.
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Im Blogcast lese ich Dir diesen aktuellen Blogartikel vor. Mit Betonung, versteht sich!
Da waren bereits Regierungschefs zu Gast und Buhlschaften, Oscar®-Preisträger, Olympia-Siegerinnen und Robbie Williams auch. Dass nach über 25 Jahren Frühstücksbetrieb die Personaldecke ziemlich spannt, versteht man. Mittlerweile werden auch Persönlichkeiten eingeladen, bei denen der Begriff „Persönlichkeit“ an seinem unteren Bedeutungsrand so weit ausgedehnt werden muss, dass man versucht ist, vom Narrensaum zu sprechen.
Am Sonntag vor zwei Wochen war dort eine Influencerin aus dem schönen Tirolerland zu Gast, also eine persönliche Persönlichkeit aus jenem emsigen Rudel, dessen Mitglieder vor allem dafür bekannt sind, dass sie auf Social Media bekannt sind. Dort wird dann getanzt und gelacht und geweint, man erfährt auch viel über Frühstücksgewohnheiten und Urlaubsziele. Zum passenden Zeitpunkt wird was geoutet, werden Depressionen eingestanden, die eigene Bi- oder Multi-Sexualität präsentiert und neuerdings immer öfter die ADHS-Diagnose verkündet, weil man das der Follower-Herde im Sinne der unverstellten Beziehung schuldet – im Zwielicht dessen, was man glaubt, das könnte mit Authentizität gemeint sein. Dieses Missverständnis erlebt man in austauschbaren Posen, originell gemeinten stereotypen Sprachfiguren, die zur Begrüßung mit „Hallo, ihr Lieben“ Anlauf nehmen, dann über Sätze hüpfen, die häufig mit „genau“ beginnen und dann in einem „Lass gerne ein Like hier“ in dem Nichts verduften, in dem sie entstanden sind. Österreichisches Influencer-Personal hat für sich den allerbesten authentischen Ton erkannt: seinen Herkunftsakzent hinter einem Piefke-Sound zu verstecken, den es sich aus Film & Fernsehen, von seinen deutschen Vorbildern und voneinander abgelauscht hat. Internationalität aus dem Wurschtelprater quasi.
Inhaltlich erlebt man in dieser Szene insgesamt so ziemlich alles, was diese Persönlichkeiten ganz persönlich treiben, manchmal auch mit wem, weil dies und das die Follower-Zahlen in die Höh’ treiben. Und da gehören sie ja hin, denn erst ab einer gewissen Höhe macht das die Influencer*innen zu interessanten Werbeträger*innen, also zu benutzbaren Ventilen für Werbetreiber*innen, mit denen aus anderen alles rausgeholt wird, was einem selbst nützt. So geht das, glaub ich. So macht man das und nennt es „Businessmodell“ oder „das System“, dessen Basis die strukturelle Verwechslung von Erfolg mit Leistung bildet.
Do you like me?
Die nun in Rede stehende Dame kann sich über mangelnden Erfolg wahrlich nicht beschweren, wenn sich alleine auf Instagram 390.000 Follower an ihre digitalen Fersen heften. Daneben nehmen sich die 420.000 Instagram-Anhänger von Luisa Neubauer eher als doch nicht so großes Grüppchen aus, wie man meinen möchte. Auf TikTok hat die deutsche „Fridays for Future“-Proponentin knappe 20.000 Beobachter, das Glückskind aus Tirol hingegen teilt ihre aufregenden Erlebnisse dort mit 2,2 Millionen Gleichgesinnten. Sie teilt dort nicht nur ihre Erlebnisse, sondern auch ihre Erkenntnisse, die sie im Laufe ihrer 26 Lebensjahre reichlich gewonnen hat. Über eine so lange Zeit kommt, wie man sich vorstellen kann, allerlei zusammen, was ihre Community verzaubert. Noch dazu, wenn man viele dieser Erkenntnisse im knappen Bikini teilt und manch eine davon vielleicht sogar darin erwarb.
Ein beträchtlicher Teil des dort vermittelten Wissens hat mit Haaren zu tun, nicht ausschließlich mit jenen, denen es gelingt, aus dem Kopf endlich ans Licht zu dringen, wo sie dann rasch entdecken, dass mit heißer Luft auch geföhnt wird. Ja, mag sein, dass sich manchem Zufallsgast auf den dortigen Social-Media-Plattformen die Haare sträuben – und wenn schon: Wie das gebändigt werden kann, lernt man ohne Medienbruch ebendort und auch in einem Buch voller „Hacks“ zum nämlichen Thema. Andrerseits: 2,2 Millionen fliegen drauf, und wer bin ich, zu glauben, die könnten irren? Genau.
Wenn das also nicht alles gute Gründe für eine Einladung zum öffentlich-rechtlichen Frühstück bei mir sind, dann weiß ich auch nicht. So geschah’s also am verwichenen Sonntag, an dessen Vormittag der Social-Media-Star sich nach 26 Jahren aus dem Ötztal via Netflix’ Too Hot to Handle schließlich an den Frühstückstisch vorgearbeitet hatte und dort den Ton angab, mit dem sie aus ihrem Leben als Star-Influencerin erzählte.
Wer influenced wen und wie?
An vielen anderen Frühstückstischen im Lande saßen derweil Influencerinnen, denen tatsächlich kaum jemand entwischen kann, jedenfalls analog nicht. Influencerinnen mit weniger Klick-Erfolg, aber größerer Leistung als ihre weltbekannten Pendants, und vor allem aber: von anhaltend prägender Bedeutung. Manche wurden (sozusagen dennoch) gefeiert, es war nämlich Muttertag. Ich fragte mich, worüber an diesen Frühstückstischen gesprochen wurde. Was wurde dort gefragt und gesagt?
Und ich fragte mich (ich frag mich immer noch), welche Geschichte wir uns insgesamt über Vorbilder erzählen, über die Riesinnen und Riesen, auf deren Schultern wir uns stellen dürfen oder könnten, um von dort oben sowas wie Teile unserer Weltanschauung zu gewinnen. Vorbild – was ist denn das? Wer sind denn unsere Ries*innen?
Welches Vorbild geben denn wir ab, jeder von uns, vor allem aber jene von uns aus der Generation 26+, die als Anschauungsmaterial für kommende Generation dienen? Wen oder was sehen die heute jungen Menschen, also jene, die die Zukunft erleben, besiedeln und dringend gestalten sollen? Wohin sehen sie, woran sehen sie vorbei, was übersehen sie, wenn sie in Horden den Influencern im ausgehöhlten Nichts verfallen, während ringsum die Tapete brennt?
Anführen oder verführen?
Unserer Zeit fehlen die vorbildlichen Anführer, die Staatsmänner und -frauen, die Führungspersönlichkeiten in der Zivilgesellschaft und in Unternehmen, die inspirierenden Weltgestalter eines besseren Morgens, die verstehen, dass gewinnen nur gut ist, wenn dabei niemand verliert, bevor wir noch über Inhalte sprechen. Ist es nicht logisch, wenn es keine vorbildlichen Anführer gibt, dass die Verführer in dieses Vakuum drängen und letztlich kaum noch jemand führt – nämlich sein eigenes Leben nicht mehr, sondern sich nur noch über die Signale anderer ab- und angleicht?
Was ist aus unserer aufgeklärten Gesellschaft geworden, wenn angesichts des an allen Ecken entzündeten Planeten die kommende Generation von der amtierenden offensichtlich allzu wenig lernen konnte? Ist das der Kantsche Rückwärtssalto, der Retourgang des Menschen „in seine selbstverschuldete Unmündigkeit“? Da fällt mir ein Aphorismus des Riesen Erich Kästner ein: „Nie dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken.“ Auch nicht zum Frühstück.
An dieser Stelle müsste nun der offizielle Satz „Ich bin kein Kulturpessimist“ kommen, allerdings bin ich mir da gar nicht so sicher, ob das stimmt. Jedenfalls stimmt, dass ich Kulturrealist bin, das mögliche Paradies sehe, aber auch die Schlange drin. Vor allem bin ich aber Kulturpossibilist. Deshalb fällt mir der Gedanke von Khalil Gibran ein, der uns sagte: „Willst Du eine gerade Furche ziehen, häng’ Deinen Pflug an einen Stern.“ Damit das gelingt, sollten wir Sterne nicht mit Stars verwechseln und vielleicht sogar mal Luisa Neubauer zum Frühstück einladen. Da könnte man erleben, dass sich in 26 Lebensjahren doch allerlei an kraftspendender Erkenntnis stapeln kann. Zum Beispiel jene (wieder Erich Kästner): „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Das Tun ist das Beste – ja, das einzige – Mittel gegen die Ohnmacht. Und was sonst noch hilft, sind zunächst einmal gute Gespräche über Generationen hinweg, wie es Luisa Neubauer und ihre Großmutter Dagmar Reemtsma pflegen und in ihrem gemeinsamen Buch Gegen die Ohnmacht aufgeschrieben haben. Allein deshalb darf man hier mit Fug und Recht von einer echten Erfolgsgeschichte sprechen, die sich als lohnende Frühstückslektüre eignet und es wert ist, geteilt zu werden.
Zähmst du deinen Innen-Fluencer?
Der heimtückischste Influencer sitzt allerdings nicht mit seinem Smartphone in seiner Instagram-konformen Location und postet sein Luftblasengulasch. Der heimtückischste Influencer sitzt in uns selbst und erzählt uns die fatale Geschichte von unserer Selbstverwirklichung. Sein Name: Ego. Er führt uns auf unserer sehnsuchtsvollen Suche nach dem Sinn hinters Licht der Scheinwerfer der Öffentlichkeit und verstellt breitschultrig unseren Blick auf das ewige Leuchten in uns selbst. Dieses Licht leuchtet in unserem persönlichen Leuchtturm. Es weist uns den Weg, der über unsere Selbstverwirklichung hinausführt – hin zu einer Aufgabe, die wir erfüllen können, für die wir da sind, jede und jeder von uns. Das ist unsere Story, unsere innere Geschichte. Die kann sehr privat sein, die kann riesengroß sein – sie ist da, man muss sie sehen. Oder hören. Hinsehen und Hinhören.
Die stumpfen Augen, die einen in erschreckend wachsender Häufigkeit aus den verdrossenen Mienen so vieler Menschen ansehen, senden in Wahrheit sehnsuchtsvolle Blicke des ungelebten Lebens. Unsere ungelebten inneren Geschichten betäuben und vergiften uns. Dazu habe ich mir einen Satz von Maya Angelou gemerkt: „Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in sich zu tragen.“ Glaube mir, ich weiß verdammt genau, wovon hier die Rede ist.
Innerlich resignierte Menschen tasten nach der Erlösung im Außen, als hätte Henry David Thoreau nicht vor 150 Jahren gelebt, sondern seine Bobachtung über letzten Montag um 8:00 Uhr an der nächstbesten U-Bahn-Haltestelle beschrieben: „Die Masse der Menschen führt ein Leben in stiller Verzweiflung. Was man Resignation nennt, ist bestätigte Verzweiflung. Von der verzweifelten Stadt geht man in das verzweifelte Land und muss sich mit der Tapferkeit von Nerzen und Bisamratten trösten. Eine stereotype, aber unbewusste Verzweiflung verbirgt sich sogar hinter den so genannten Spielen und Vergnügungen der Menschheit. In ihnen gibt es kein Spiel, denn das kommt nach der Arbeit. Aber es ist ein Merkmal der Weisheit, keine verzweifelten Dinge zu tun.“
Wenn wir bei dieser Gelegenheit gleich noch auf die Schultern der Riesin Marie-Louise von Franz kraxeln, gewinnen wir einen psychotherapeutischen Klarblick dazu: „Eine der bösartigsten zerstörerischen Kräfte, psychologisch gesprochen, ist ungenutzte schöpferische Kraft … Wenn jemand eine schöpferische Gabe hat und sie aus Faulheit oder aus einem anderen Grund nicht nutzt, verwandelt sich die psychische Energie in reines Gift. Deshalb diagnostizieren wir Neurosen und psychotische Krankheiten oft als nicht gelebte höhere Möglichkeiten.“
Mentoren von heute sind die Influencer für morgen.
Unsere Welt braucht wahrlich keine Blendkraft von Influencer*innen, sondern Mentor*innen, die eine Neue Story teilen. Das ist die Geschichte der positiven Erneuerung unserer Gesellschaft, getragen von Held*innen, die nicht ausschließlich auf sich selbst und ihre Posen zeigen, sondern verstehen, dass es nicht um das Wachstum von Follower-Zahlen, Klicks und Likes geht, sondern um das Wachsen über sich selbst hinaus. Es geht um diejenigen, die die Erneuerung für eine lebenswerte Zukunft nicht mit dem Postulieren von Verzicht, Verlust und Verzweiflung beschreiben, sondern die die Geschichte von der Befreiung vom Zuviel teilen. Diejenigen, die davon erzählen, was wir dadurch alles gewinnen würden, jede*r Einzelne von uns und wir alle miteinander – die uns das Bild von einer Welt ausmalen, in der wir nicht mehr von den Dingen besessen werden, von denen wir besessen sind, sie zu besitzen und auszustellen.
Ich weiß, diese liebenden Erneuerer, Heiler und Geschichtenerzähler sind mitten unter uns, in allen Generationen. Sie brauchen Plattformen, Sichtbarkeit und Bühnen, damit sie ihre Storys teilen können, Bewegung in die Menschen und Menschen in Bewegung bringen können. Wäre nicht öffentlich-rechtlicher Rundfunk genau jene Bühne, auf der dann auch noch die Unverzichtbarkeit dieser Institution im großen Auftritt sichtbar, ja erlebbar wird?
Zweifellos würde dann meine Großmutter, die alte Story Dudette, ihres Zeichens Influencerin mit meinem uneingeschränkten Like, beim nächsten Frühstück bei mir persönlich ausrufen: „New Story. New Glory!“
PS: Immer wieder höre ich, dass mein Newsletter und mein Blog viele Menschen kräftig inspiriert. Findest du auch? Dann teile ihn bitte mit Leuten, denen du etwas Gutes tun willst. Sie freuen sich bestimmt – und ich mich auch. Danke im Voraus!